30 Oktober 2013

Zwischen Trance und Träumen

Derzeit wende ich mich einem neuen, für mich eher ungewohnten Projekt zu und dazu benötige ich jede Hilfe, die ich bekommen kann. Es wird also Zeit, sie wieder herbei zu rufen, die Freundinnen und Freunde der Kindheit - die Geister der Natur, der Elemente und des Sagenhaften. 

Von Anbeginn lebte ich mit ihnen, mal mehr, mal weniger, bewusst. Nie habe ich sie ganz aus meinen inneren Augen verloren. Und obwohl ich älter und verändert bin, werden auch sie mich, mein unveränderliches Sein, sofort erkennen.

Zur Zeit schüttle ich die knochentrockene Realität ab. Lange wandte ich mich, aus guten Gründen, nüchtern der Sachlichkeit und Objektivität zu, da sie für mich das schriftliche Parkett der Sachbezogenheit überhaupt erst gangbar machten. Jetzt haben sich die Prioritäten geändert. 

Und so betrete ich eines der verschlossenen Gemächer der Erinnerung. Hier finde ich einen fast vergessenen, aber vertrauten Anblick - wie in einem, seit langem unbewohnten, Raum in dem alles Mobiliar und die darin aufbewahrten kostbare Gegenstände sorgfältig mit Tüchern abgedeckt sind, um sie vor Schäden durch den Staub des Vergessenes und der Nichtbeachtung zu schützen. 

Nach und nach ziehe ich die grau gewordenen Schleier ab, die alles sorgfältig verhüllten. Welch eine Pracht an Traum und Wirklichkeit. Zum Vorschein kommen all die Wunderwelten meiner Kinderzeit und die meiner Kinder und Kindeskinder. Ich könnte mich im Spiel verlieren. Ich öffne weit die Fenster um die bisher ausgesperrte Fantasie wie einen frischen belebenden Luftzug hereinzulassen. Ein Wind, der auf blauen Schwingen neue Wunder trägt und im Raum verteilt. Doch etwas fehlt noch und so hebe ich das letzte Tuch. Darunter schlafen, lieblich und vertraut, die Gefährtinnen meiner Kindheit – fröhliche Fantasiegebilde, uralte wundersame Wesenheiten, Naturgeister, wie sie nur meine Augen sehen können. Ich setze mich still zu ihnen und warte, dass sie erwachen... 



02 Oktober 2013

... ach wie gut, dass jeder weiß...

Eine Freundin hat mich unbeabsichtigt mit einer Metapher daran erinnert, wer ich bin. Fast wäre es mir im seichten Getriebe meines Alltags entglitten - ich bin die Alte - die Großmutter, die den bösen Wolf gefressen hat. Beinahe hätte ich mich vergessen zwischen all dem Nettsein und Verständnishaben für all die Müllerstöchter und all die täglich um mich umherspringenden Rumpelstilzchen dieser Welt. Wir wissen es doch längst und sollten nicht müde werden es der Müllerstochter zu sagen: ein Rumpelstilzchen wird niemanden retten. Im Gegenteil! Sein wahres Sein verbirgt er, seinen Namen nennt er nicht.

Als betagte Frau, habe ich zwar inzwischen eine recht milde Sicht auf den Wahnsinn der Welt, dennoch fehlt mir inzwischen die Toleranz dafür, dass im Allgemeinen die Vorstellung vom heutigen Frausein, immer noch in der Mädchenphase endet. Mir scheint oft, als blieben viele der Frauen das ahnungslose, allen Widrigkeiten und männlichen Kabalen ausgelieferte, suchende Mädchen. Sind sie denn (gern) das mutterlose, leichtgläubige, aber natürlich junge, wunderschöne Müllerstöchterlein, das sich nicht zu helfen weiß.

Sitzen wir gern vor einem Haufen Stroh und weinen. Doch was geschieht? Es erscheint ihr keine gute Fee. Keine verstorbene Mutter schickt Täubchen. Und da kommt auch keine weise Alte vorbei, um ihr einen Rat zu geben. Vom Vater verraten und verkauft, vom goldgierigen König ist keine Gnade zu erwarten, eilt auch sonst niemand herbei, sie aus dem Turm zu erretten.

In dieser Not erscheint es, das Rumpelstilzchen. Ungerufen! Ein harmlos scheinender Geist. Bieder bietet er ihr seine Zauberei an, gegen Bezahlung versteht sich. Und sie nimmt dankbar an. Sie schließt einen Pakt. Doch dieser Vertrag mit dem Ungeist wird sie nicht befreien, sondern sie in eine noch fiesere Falle locken. Seine Hilfe wird sie später um alles bringen, was ihr Leben wert macht – ihr Kind! Gewiss, sie hat es ihm in ihrer Not versprochen und später, zu guter Letzt, wird da jemand sein, der ihr aus dem Schlamassel heraus hilft. In ihre eigene Kraft kommt sie zu keinerZeit.

Das innere Rumpelstilzchen wird gern als Metapher für Rebellion, für Wehrhaftigkeit verwendet - Trau dich, sei ein böses Mädchen! Aber die mutterlose Müllerstochter ist bis zum Schluss kein böses Mädchen und das Rumpelstilzchen wollte ihr gar nicht helfen und schon gar nicht sich zu wehren. Es hat eigene fiese Pläne und die werden langfristig allen naiven Mädchen mehr schaden, als anfangs die scheinbare Wohltat vermuten lässt. Er spinnt für sie das Stroh zu Gold und sie bewahrt den Schein. Das Abkommen sichert ihr den Platz an der Seite eines bedeutenden Mannes, aber es soll sie auch um ihr Kind bringen. Ihr gelebtes Muttersein verhindern. Das - ist das wahre Rumpelstilzchen.

Und über dieses Mädchen, das nicht weiß was es tut, das das Leben noch nicht kennt, das zwar vielleicht Wissen sammelte, aber sich noch nicht selbst erfahren hat - über dieses Mädchen bin ich schon lange hinaus. Ich bin weder ein böses noch ein gutes Mädchen. 

Ich bin gar kein Mädchen mehr, sondern eine GroßeMutter. Und gut und böse sind für mich irrelevante Begriffe. Auch provoziere ich nicht mehr – ich stelle richtig, ich sorge für Klarheit, ich banne die Rumpelstilzchen dieser Welt.

Was tut eine Großmutter wie ich? 


Ich bleibe, wenn andere gehen. Ich zeige wo die Kraft liegt, wenn andere hadern. Ich träume in die Vergangenheit und die Zukunft, wenn andere sich von der Gegenwart fesseln lassen.

Ich bin. Ich ich sitze am Feuer, streue Kräuter in die Flamme und sehe wie der Rauch aufsteigt. Ich weiß um die Welt und das Sein.

Ich antworte stets, wenn eine kommt und mir Fragen stellt. Und meine Antworten stammen allesamt aus der Alten Welt. Aus der Welt der weisen und patenten Mütter und Ahninnen.  

Die Mädchenfrauen unserer neuen Welt sollten langsam mal genug vom Spiel mit Puppen haben und erwachsen werden. Und es wäre gut, würden sie sich trauen die Hilfsangebote der Rumpelstilzchen durchschauen, statt sich davon verführen zu lassen. Es ist an der Zeit, dass sie die wahren Traditionen der Mütter und Großmütter wieder entdecken, um den tiefen Sinn des Mutterseins zu erkennen und so "Königin" im eigenen Reich zu werden.
Ich brauche kein inneres Rumpelstilzchen, keinen tobenden Geist, der mich zu irgendetwas antreibt oder mir hilft mich zur Wehr zu setzen. Gegen wen sollte ich mich wehren? 


Mit Frauen will ich mich in gegenseitigem Wohlwollen verbünden. Mit Männern will ich nicht nur koexistieren, sondern auch kooperieren.

Mit Töchtern und Söhnen möchte ich zusammenleben und unlösbar bin ich mit ihnen in der Zeit verbunden. Meine Elf Töchter der Zukunft sind meine Motivation. Brauche ich mehr? 

... ach wie gut, dass jede Großmutter weiß, was das Rumpelstilzchen gar nicht wissen kann!

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PS ... ich kenne sie alle, die Spielarten mit denen das Märchen vom Rumpelstilzchen schon variiert wurde. Von der strikten Fassung der Gebr. Grimm bis hin dem Rumpelstilzchen, das als liebenswerter Erdgeist dargestellt wird, der das naive Müllerstöchterlein "nur" belehren möchte und selbstverständlich auch das Kind nicht behalten will, sondern einen gedankelosen oder hartherzigen König bekehren. Es wird wohl noch viele Interpretationen geben...