15 Januar 2012

Die Tränen des Alltags

Wenn meine Schwester und ich Arm in Arm die Allee auf dem Michaelisfriedhof entlang spazieren, fließen so manches Mal ein paar Tränen. Doch nicht der Rührung oder Trauer. Es ist eine zugige Stelle, dieser lange, schnurgerade Weg zwischen Bäumen und Gräbern. Das Auge schützt sich durch einen Tränenschleier vor dem Wind, der da heftig entlang pfeift, so dass trotz Brille die Augen feucht werden. Oder wie im Fall meiner älteren Schwester lösen die Augentropfen, die sie regelmäßig anwenden muss, diesen Effekt aus.

Sonst gibt es eigentlich keinen Grund zu weinen. Im Gegenteil, je länger wir uns kennen lernen, desto mehr lachen wir mit einander. Ganz recht, ich musste meine siebzehn Jahre ältere Schwester erst kennen lernen. Als ich noch keine zwei war verließ sie die elterliche Wohnung und dann sah ich sie lange nicht mehr. Später erlebte ich sie besuchsweise einmal im Jahr drei Tage lang. Wenn nach einem aufwändigem Genehmigungsverfahren ihr Aufenthalt von den Behörden gestattet wurde, konnte sie in die DDR einreisen. Das waren noch Zeiten – Grenzen – auf der Karte, im Gelände, in den Köpfen, in den Herzen.

So kam es, dass ich diese Frau, die mir eigentlich, von Geburt wegen, nach meiner Mutter, am nächsten hätte stehen müssen, überhaupt nicht kannte. Sie war die Schwester, die im Westen wohnte - Geschäftsfrau, verheiratet und kinderlos. Es war kompliziert. Als wir uns wieder begegneten und wirklich Zeit mit einenander verbringen konnten,
dauerte es lange, bis wir gegenseitig so viel von einander wussten und miteinander fühlten, dass wir ungehemmt zusammen fröhlich sein konnten oder gemeinsam traurig. Die Jahrzehnte lange fehlende Nähe und unsere sehr verschiedenen Biografien haben nicht immer zu einer unbeschwerten Verständigung beigetragen.

Es war vor allem für meine Schwester nicht leicht. Mein Kinder- und besonders mein Enkelkinderreichtum, bekümmerte sie immer wieder. Ihre Kindheit und Jugend ging einst im Krieg und den Nachkriegsjahren unter und allein unter Brüder das einzige Mädchen der Familie zu sein, war auch kein Zuckerschlecken. Als dann das ersehnte Schwesterchen kam, absolvierte sie bereits in einem Nachbarstädtchen eine Ausbildung. Und bald darauf war die kleine Schwester für sie gar nicht mehr erreichbar, sie zog von Thüringen in die Lüneburger Heide. 

Persönliche Entscheidungen, aber auch idiotische politische Verhältnisse haben uns so um Gemeinsamkeit gebracht und schwesterliche Qualität verkümmern lassen. Wer fragt noch nach den Schicksalen, die von männlichen Machtspielen plattgemacht wurden? 

Meine „verlorenen“ Schwesterjahre sind für mich immer mal wieder ein kleiner Grund zur Trauer, auch um ein Tränchen zu vergießen...
 
Worüber weint ihr so?



 .

2 Kommentare:

Grey Owl Calluna hat gesagt…

....grad' heute finde ich mich wieder mal sehr selbstmitleidig, weil mir die MS Beschwerden macht.
Liegt wohl aber auch am Wetter.
.....da vergieß ich schon mal ein Tränchen, wenn der Rücken,....die Rückenmuskeln nicht gehen wie sie sollen.....

Tränen treiben mir immer noch die Spiele der Mächtigen in die Augen, besonders ihre Auswirkungen.....der "Weltenschmerz", so zu sagen....

Sei ganz lieb gegrüßt
Rosi

birgit hat gesagt…

manchmal muss ich weinen um die vielen vergeudeten möglichkeiten in der familie
so viel ungelebtes ungeliebtes
und beide geschwister tot geboren
das macht mich traurig
ansonsten kann ich derzeit aus dem stand tränen vergiessen um alles und jedes und habe immer noch nicht gelernt es einfach hinzunehmen
*grummel*
allerliebste grüße
birgit