15 Dezember 2011

Neugeboren

Wieder und wieder fühle ich mich wie neugeboren...

Als ich angefragt wurde, ob ich zum Thema Neugeboren was beizusteuern habe, las ich im ersten Moment statt dessen „Neugeborene. Lag wohl an meiner Großmutterbrille.

„Ich fühle mich wie neugeboren“... den Satz können wir heute allgemein im Getriebe des Alltags wohl viel öfter hören als die Botschaft: „Wir haben ein Neugeborenes!“

Mit meinen Kindern, die ich einst zur Welt brachte, wurde auch ich ein jedes Mal neugeboren. Später, als meine Kindeskinder zur Welt kamen, nahmen mir meine Töchter die Arbeit ab, aber selbst bei körperlicher Abwesenheit fand auch für mich diese geheimnisvolle Transformation statt. Ich wurde als Großmutter neugeboren und ein jedes Mal dadurch erneuert, erweitert, gewandelt. Ich würde nicht fühlen, denken und handeln, wie ich es heute tue, wenn es nicht so wäre.

Jede Geburt ist nun mal wie der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings der Chaostheorie. Sie ist das Epizentrum, der Moment der Wahrheit für die Nächststehenden. Denn nichts wird mehr wie vorher sein

Auch die betroffenen Angehörigen werden mit „neugeboren“. Selbst wenn wir das Ereignis ignorieren oder uns distanzieren, der Schmetterling entfaltet die Flügel und setzt eine neue Assoziationskette, genannt Zukunft, in Gang. Das gilt auch gleichermaßen für das Sterben, doch das ist nicht das Thema.

Es gibt in unserem Alltag wenige Neugeborene, wenn wir nicht gerade Hebamme sind. In jeder Sekunde werden zwar mehrere Kinder auf der Welt geboren und ebenso sterben davon Tag für Tag unendlich viele, bevor sie dazu kommen wirklich zu leben. Und auch wenn wir gelernt haben solche Tatsachen zu akzeptieren, ist es für mich immer wieder eine kaum fassbare Vorstellung.

Und wie sieht es in unserem beschaulichen westlichen Alltag aus? Wo es relativ wenige Kinder gibt und diese zumindest ein Auskommen haben, eine vorgeschriebene Bildung durchlaufen müssen und denen bis zu drei Jahren eine Mama zugestanden wird, bevor sich diese wieder in den Erwerbsarbeitsprozess einreihen soll?

Geboren werden ist einfach kein Thema unserer Tage. Wir haben uns an diesen gesellschaftlichen Zustand der Ignoranz gewöhnt, dabei wäre eine grundsätzliche, freundliche Kenntnisnahme von Neugeboren und Kindern allgemein dringend angesagt. Babys werden zwar heute in der Öffentlichkeit nicht mehr so geflissentlich übersehen, wie es noch vor Jahren der Fall war und bestimmt sind die Reaktionen in gewachsenen Strukturen eines ländlichen Gemeindelebens anders als in der anonymen Großstadt, doch wir wissen auch, dass es reale und virtuelle Räume in unserer Gesellschaft gibt, wo keine Kinder vorkommen, nicht vorgesehen, ja undenkbar sind oder auch durch uns besser fern gehalten werden.

Die erwachsene (Arbeits)Welt ist kinderfrei, wenn die Erwerbstätigkeit der einzelnen nicht gerade darin besteht, auf anderer Leute Kinder Einfluss zu nehmen. Und diese Tätigkeit kann ganz verschieden sein, z.B. als Lehrerin, Kindergartenfachkraft oder Marketingstratege. Kinder werden separiert gedacht und bis zu einem gewissen Lebensalter auch nicht wirklich als normaler Mitmensch behandelt.

… ich stelle mir gerade vor, ein Neugeborenes würde grundsätzlich öffentlich bekannt gegeben. Die Nachbarn der gesamten Straße, des Viertels, würden in ihr Bewusstsein die Information hereinlassen: Hier wächst ab sofort ein neuer kleiner Mensch heran und für den ich auch zuständig bin. Ich werde achtsam sein und in meinem Herzen und meinen Handlungen das neue Leben begleiten.Und statt Glückwunschkarten werden Gutscheine verschickt, die ein individuelles Hilfsangebot enthalten....

Ich höre lieber auf zu träumen. In unserer oft unerfreulichen Wirklichkeit wäre die junge Mutter von so viel Aufmerksamkeit wahrscheinlich überfordert. An der Stelle wird auch klar, ein solcher Paradigmenwandel im Umgang mit den Menschen, mit denen wir unseren Alltag teilen, lässt sich zu den jetzigen Bedingungen nicht eben mal umsetzen. Umso wichtiger ist unser aller Neugeburt.

Geborenwerden wird auch als „das Licht der Welt erblicken“ bezeichnet. Denn die Welt ist bereits da und wir sollten sie uns immer wieder mit neuen Augen ansehen, um auch neue Voraussetzungen für all die Neugeborenen und uns selbst schaffen. In meinem Leben gab es einige Aha – Erlebnisse und Erkenntnisse - beschert durch das Gefühl des NeugeborenSeins - das sich mir gerade bei jedem Kindeskind immer wieder so elementar, so überwältigend präsentierte.

Es ist das Besondere an der weiblichen Entwicklung, dass wir mit dem Eintritt in die Zeit des „Nach dem Muttersein“ eine neue Bewusstseinsstufe erreichen. Sie wird ja auch als die sogenannten Wechseljahre gekennzeichnet. Bis vor kurzem wurde dabei der Frau auch immer noch, ob ihrer beginnenden „Unfruchtbarkeit“, ein Unwertgefühl eingeredet. Ich denke jedoch, darüber sind viele inzwischen hinaus. Unsere wirkliche weibliche Fruchtbarkeit, die nicht nur aus dem Gebären können besteht, lassen wir nie hinter uns.

Das, was mit dem Wechsel beginnt, ist die Großmutterzeit, in der wir noch mal alles geben. Wir platzen nahezu aus allen Nähten mit unseren Erfahrungen - einem neuen und alten Wissen - und der Ungebundenheit von dem Jugend- und Paar-fixierten, engstirnigen Mainstream.

Vor einem Jahr schrieb ich in meinem Blog die Erinnerung* an einen bedeutsamen Tag auf:

…. und da stand ich vor dem Bettchen. Vor mir lag winzig und wie verloren auf weißem Grund ein Neugeborenes, mein erstes Kindeskind, die Tochter meiner Tochter. In mir brach etwas auf, was ich inzwischen fast vergessen hatte, was ich erledigt glaubte, was bis eben unvorstellbar schien. Mich überrollte eine goldene Flut des Erkennens und die Gewissheit: Das ist eines meiner Kinder.
Sie sah aus wie einst ihre Mutter und sie schien in meinen Arm zu fliegen. Es war alles wieder da: Die Glückseligkeit, ein klitzekleines Baby im Arm halten zu können! Ich konnte den unverkennbaren Duft von neuem Leben einatmen. Haut spüren wie sie nur diese ganz kleinen Menschen haben und ein Seidenpapier dagegen grobkörnig erscheint. Sie war mein Kindeskind und ich war ihre Großmutter.
Ich hatte nichts dafür tun müssen, außer fünfundzwanzig Jahren zuvor selbst ein Kind zur Welt zu bringen, es groß zu ziehen. Jetzt gab es diese Potenz meines Kindes...

Die Großmutterzeit, die Phase der Weisen Alten - so meine beglückende Erfahrung - beinhaltet ständig und in vieler Hinsicht das wunderbare NeugeborenWerden. Und sollte hier und da eine Großmutter sein, die das nicht so fühlt - das kommt schon noch! Werden wir also so oft es geht neu geboren...



(*es ist auch ein Ausschnitt aus meinem Vortrag Die Großmutter bin ich)

1 Kommentar:

birgit hat gesagt…

da in meinem blog eine junge mutter mitliest habe ich meinen beitrag heute nicht so ausgeführt wie ich zunächst vorhatte
und er war so meilenweit von neugeboren entfernt wie nur vorstellbar
gestern als ich in meiner kleinen freude die filme ansah
platzten mir die nachrichten hinein
und heute morgen habe ich nur kurz bei google news reingeschaut
und habe das gefühl
die zeit des gebärens ist vorbei
---
da fällt mir ein
genau das hat mir eine kollegin gesagt als ich das erste mal schwanger war
und ich hab trotzig gedacht
jetzt erst recht
so hat sich wohl die menschheit erhalten...
lg birgit